Dicke Damen auf Männerfang | schwäbische

2022-10-09 17:46:12 By : Mr. Kison Wang

Mit der Knarre in der Hand fühlte sie sich wohl. Es war wie eine Befreiung, ihre Wut endlich kanalisieren zu können. Sie sei eine „zornige junge Frau gewesen“, hat Niki de Saint Phalle einmal erzählt – und als sie plötzlich auf die Idee kam, auf ihre eigenen Bilder zu schießen, war es für sie „ein erstaunliches Gefühl“. Sie beschmierte Tomaten, Eier und Farbbeutel mit Gips, brachte sie auf ihren großen Bildwerken, lieh sich vom Rummel ein Gewehr und schoss in spektakulären Performances auf die Gipsbeutel, aus denen platzend die Farbe spritzte. Es war nicht nur eine neue Form, den Zufall in die Kunst hineinzuholen. Für Niki de Saint Phalle war es ein Akt der Rache. Sie schoss auf „die Gesellschaft, die Kirche, den Konvent, die Schule, meine Familie“, also auf alle, die Macht missbrauchten.

Ist das jene Niki de Saint Phalle, die man von den fröhlichen und knallbunten dicken Frauenfiguren kennt, den „Nanas“ mit lustigen Blumenmustern auf den Brüsten und riesigen Popos? Niki de Saint Phalle hat Weltkarriere mit diesen Skulpturen aus Kunststoff gemacht. Bis heute, zwanzig Jahre nach ihrem Tod sind ihre Motive im Umlauf, finden sich auf Schals und Taschen, Decken, Schlüsselanhängern und Parfumflakons. Kaum eine Künstlerin ihrer Generation war so populär wie sie.

Im Kunsthaus Zürich kann man nun in einer spannenden Retrospektive auch viele andere überraschende Facetten von Niki de Saint Phalle entdecken, die selbst keineswegs so fröhlich war wie ihre prallen Frauenfiguren. Der Vater, alter französischer Adel, war Banker, der beim Börsenkrach 1929 alles verlor. Die Mutter war Amerikanerin, sodass Niki zunächst in Frankreich und dann in New York lebte und auf eine Klosterschule geschickt wurde. Sie heiratete früh, bekam zwei Kinder und als sie nach einem Nervenzusammenbruch in der Psychiatrie landete, begann sie zu malen. Es war wie eine Erweckung für sie: „Ich umarmte die Kunst als Erlösung und Notwendigkeit.“

Denn die junge Frau schleppte allerhand Traumata mit sich herum, wie sie später schonungslos öffentlich machte. Ihr Vater hatte sie seit ihrem elften Lebensjahr sexuell missbraucht. Die Mutter hatte wechselnde Liebhaber und schlug die Kinder. Und wenn man nun in Zürich dem wenig bekannten Frühwerk begegnet, ahnt man, was sich bei ihren Schießbildern entlud. Sie drehte auch einen Film über den Vater, auf dessen Bild am Schluss geschossen wird. In der Ausstellung kann man auch einen Text lesen: „Ich hab den Papa umgebracht, die Mutter schoss ich tot, den Kopf hab ich ihm abgehackt, ich musst es leider tun.“

Die Aggression wich im Lauf der Jahre, die Fragen zu Körper, Weiblichkeit und Sexualität verarbeitete Niki de Saint Phalle aber immer wieder neu. Eine wahrlich spektakuläre wie provokante Arbeit präsentierte sie 1966 in einem Stockholmer Museum, in das sie mit Hilfe ihre zweiten Mannes Yves Tinguely eine riesige Frauenfigur baute, durch deren gespreizten Beine man direkt ins Körperinnere lief. 100 000 Besucherinnen wollten in die „größte Hure der Welt“ eindringen, wie Niki de Saint Phalle ihre „Hon“ bezeichnete. Im Inneren stand eine Sandwich-Maschine, es gab eine Milchbar und sogar ein Kino, in dem ein Kurzfilm mit Greta Garbo lief.

Vermutlich half der Erfolg, dass Niki de Saint Phalle Wut und Bitterkeit der früheren Jahre abschütteln konnte. Im Lauf der Jahre bekam sie immer mehr Aufträge im öffentlichen Raum. 1998 konnte sie nach zwanzig Jahren auch ihr Lebensprojekt vollenden und eröffnete in der Toscana ihren „Tarotgarten“. Sie baute die Motive der Tarot-Karten nach als riesige, begehbare Skulpturen. Es sind ganz unterschiedliche, meist unförmige Bauten mit einer Haut aus Spiegeln, Farbe, Fliesen, die an Antoni Gaudí erinnern. Sie bewunderte ihn sehr.

So spannt die Ausstellung, mit der sich der Direktor Christoph Becker vom Kunsthaus verabschiedet, einen großen Bogen, beginnend bei den ersten Gemälden und frühen Assemblages, bei denen Niki allerhand Objekte auf der Leinwand eingipste: Eisenwaren aus dem Baumarkt, Gummiringe und immer wieder Puppen und Spielzeug. Aber es sind auch einige ihrer dicken Frauen zu sehen wie die zwei wahrlich wuchtigen Matronen, die an einem Caféhaus-Tisch sitzen und auf Männerfang sind. Sie wirken wir Karikaturen – wie auch das riesige Weib, das mit Lockenwicklern auf dem Kopf vor dem Schminktisch sitzt. Diese XXL-Frauen waren das Gegenteil von der Künstlerin, die zart und apart war, und als junge Frau auch Karriere als Fotomodell machte und es in die „Vogue“ und die „Elle“ schaffte.

Die Ausstellung macht deutlich, warum Niki de Saint Phalle im Kunstbetrieb mitunter kritisch beäugt wurde. Denn in späteren Jahren driftete sie immer häufiger ins Dekorative ab und griff nun gern zu schimmernden Fliesenscherben und Gold. Und doch: Im Kontext ihres Gesamtwerkes erscheint das marginal, sodass es letztlich keinen Zweifel daran gibt, dass sie ein vielseitiges wie interessantes Werk geschaffen hat.